Montag, 10. November 2008

Rolle des Lehrenden

Aus der konstruktivistischen Erkenntnistheorie mit der Kernaussage, dass es keine vom Beobachter unabhängige Wirklichkeit gibt sondern wir unsere Welt selbst konstruieren entstehen einige Folgen für den Umgang und das Verständnis von Schülern und Lehrern. Ich versuche die wichtigsten Konsequenzen für die Rolle des Lehrers zusammen zu fassen.

Meine erste These lautet daher:
Der Lehrer ist nicht in der Lage, den Schüler so wahrzunehmen, so zu erkennen und zu verstehen, wie dieser ist. Er konstruiert seine Wahrnehmungen und Erkenntnisse bezüglich des Schülers vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen und einer eigenen Wirklichkeit. Seine Wahrnehmungen, Einschätzungen und Beurteilungen können daher nicht den Anspruch auf objektive Richtigkeit erfüllen, sondern können vielmehr immer auch Ausdruck eines Irrtums, einer aus der Sicht des Anderen inadäquaten Bedeutungszuschreibung sein.
Die Kompetenz des Lehrers kommt somit nicht darin zum Ausdruck, von sich zu behaupten, man wisse wie der andere, der Schüler ist, sondern im Gegenteil, sie wird gerade darin deutlich, dass man sich seiner grundsätzlichen und prinzipiellen Fehlbarkeit bewusst ist und somit seine eigenen Wahrnehmungen und Erkenntnisse immer wieder einer selbstkritischen Reflexion und Beurteilung unterzieht (vgl. Reich 2006, S.22ff.). Nicht Sicherheit und klares Wissen, sondern Vorsicht und immer wieder auch Zweifel und Irrtum sind charakteristische Aspekte der pädagogischen Arbeit des Lehrers.
Eine weitere Konsequenz ergibt sich aus der Annahme, dass bei jedem Menschen seine Wahrnehmungen, Erkenntnisse und daraus resultierende Verhaltensweisen Ausdruck einer für ihn situativen Sinnhaftigkeit sind. Der Mensch verhält sich nicht irgendwie, sondern in seinem Verhalten, so ungewöhnlich dieses im Einzelnen auch immer sein mag, kommt seine Wirklichkeit, kommt ein Sinn zum Ausdruck. Übertragen heißt dies für den jeweiligen Menschen ist alles Verhalten und Denken situativ sinnvoll und notwendig. Für den Lehrer ergibt sich daraus die notwendige Frage, welche Bedeutung er dem Verhalten eines Schülers zuschreiben kann (vgl. Reich 2006). Der Lehrer ist also in der schwierigen Situation, Antworten hinsichtlich der möglichen Bedeutung von Verhaltensweisen suchen zu sollen, die aus seiner Position heraus zunächst bedeutungslos und fremd erscheinen.

Meine zweite These soll daher lauten:
Die Grundlage der konstruktivistisch orientierten Didaktik bildet der Lehrer mit seiner konstruktivistischen Einstellung und seinen didaktischen Fähigkeiten.
Die Einstellung und das Verhalten des Lehrers ist also „Dreh- und Angelpunkt“ der konstruktivistisch orientierten Didaktik.
Klein und Oettinger zählen eine Reihe von Fähigkeiten auf, die ein Lehrer ihrer Meinung nach haben muss, damit er eine konstruktivistisch orientierte Didaktik im Unterricht einsetzen kann (Klein/Oettinger 2000, S.74ff.). Ich werde hier nur einige aufführen, die ich in diesem Zusammenhang für wichtig halte (Überschriften, die ich aus dem Buch „Konstruktivismus – Die neue Perspektive im (Sach-) Unterricht“ zitiert habe, habe ich im Folgenden kursiv geschrieben und in Anführungszeichen gesetzt):
„Der konstruktivistische Lehrer muss Unsicherheit ertragen können.“
Der Lehrer muss sich bewusst sein, dass seine eigenen Einstellungen „nur“ Konstruktionen und nicht die Wahrheit sind. Dazu ist es notwendig, dass er sich regelmäßig selbst reflektiert. Der Lehrer muss akzeptieren können, dass er die Konstruktionen der Schüler nicht vollständig nachvollziehen kann, da er sein Wissen nicht direkt auf die Lernenden übertragen kann.
„Der konstruktivistische Lehrer muss häufige Umstrukturierungen und Neukonzeptionen ertragen können.“
Die Unterrichtsplanung muss variabel und flexibel sein, ganz entsprechend der Konstruktionsprozesse der Schüler. Eine umfassende, ins kleinste Detail gehende Planung des Unterrichts ist somit nicht möglich, sondern wirkt sich störend auf das Lernen aus. Der Lehrer braucht ein gewisses Maß an Kreativität, Spontaneität und Improvisationstalent, wenn er seine konstruktivistische Sichtweise im Unterricht umsetzen möchte.
„Der konstruktivistische Lehrer muss Widersprüchlichkeit und Unvereinbarkeit unaufgelöst stehen lassen können.“
Der Lehrer muss Widersprüche aufgrund seiner konstruktivistischen Einstellung erwarten und kann sie daher zulassen, wenn die unterschiedlichen Ansichten viabel sind. Er muss auch seinen Schülern verdeutlichen, dass unterschiedliche Standpunkte nebeneinander bestehen können.
„Der konstruktivistische Lehrer muss mehrere Rollen einnehmen und zwischen ihnen ‚switchen’ können.“
Er tritt z.B. auf als:
„Gestalter von effektiven Lernumgebungen“ (Müller 1996, S.74). Seine Aufgabe besteht also darin, Lernumgebungen aufzubauen, die situationsbezogenes und soziales Lernen bzw. Konstruieren wahrscheinlicher machen. Wichtig ist, dass er immer wieder die Kommunikation und Interaktion der Lernenden untereinander anregt, damit diese auch voneinander lernen können. Sie können ihre Konstruktionen vergleichen und von anderen Anregungen erhalten.
„Coach“ (Klein/Oettinger 2000, S.141ff.). Der Unterrichtsvorgang ist nicht im Voraus planbar. Er muss daher auf unvorhergesehene Situationen reagieren können und den Lernenden weiterführende ‚Anweisungen’ in Form von Impulsen, Hinweisen und Hilfestellungen geben können.
„Anregender Wissensanbieter“ (Wyrwa 1998, S.301); dazu zählt, dass der Lehrer die ganze Perspektivenbreite eines Themas kennen muss, um den Lernenden verschiedene Wissensansätze anbieten zu können. Er kann so mehrere Konstruktionsprozesse einleiten und auch auf die unterschiedlichen Konstruktionsprozesse der Lernenden eingehen. Dafür ist häufig eine zeitaufwendige Auseinandersetzung mit dem Thema notwendig, schon bevor die Unterrichtsreihe beginnt. Er darf dabei aber nicht vergessen, dass die Lernenden selbständig den Lernstoff entdecken und erforschen müssen, damit sie erfahren, was sie selbst können und damit sie ihr eigenes Wissen konstruieren können.

Im Bezug auf die konstruktivistischen Begrifflichkeiten der Konstruktion, De- und Rekonstruktion bedeutet dies für den Lehrer folgendes: Gerade im Bereich der Konstruktion, dem wichtigsten Bereich der Lehre, soll der Lehrer sich stark zurücknehmen und sich von seiner Kompetenz und seinem Mehrwissen nicht dazu verleiten lassen die Aktivität der Schüler einzuengen und ein Übermaß an Rekonstruktion entstehen zu lassen. Er ist vielmehr Impulsgeber, Planer und Evaluateur, der weniger vorträgt und kontrolliert als viel mehr moderiert. Es gilt daher für die Konstruktivisten „[…] die Belehrungsdidaktik durch eine Animationsdidaktik zu ersetzen.“ (Diesbergen 2000, S.96). Deshalb sind neben den fachlichen auch didaktische und kommunikative Kompetenzen besonders gefragt. Teamarbeit und gemeinsames Problemlösen sind weitaus effektiver als Frontalunterricht mit einer belehrenden Funktion des Lehrers. Dieser sollte statt dessen in der konstruktivistischen Didaktik Impulse und Fragen einbringen, um jedem Schüler seine eigenen Konstruktionen zu ermöglichen. Unterrichtsinhalte sollten aus diesem Grund immer Wissen und Fähigkeiten sein, welches „[…] das Individuum in der Bildung von Konstruktionen unterstützen[…]“ (ebd. S.94).
In der Rekonstruktionsphase sind Lehrer (meist) Mehrwisser. Diese Rolle ist jedoch nicht die Rolle eines vortragenden, indoktrinierenden Lehrenden, sondern zeigt ihre wahre Qualität in der Umsetzung von Theorie in Praxis, dem persönlichen Engagement und der Aktivierung der Schüler. Er bleibt zwar Experte wenn er Schüler anleitet und hilft, drückt ihnen aber nicht sein Wissen auf. Er ist für den Lerner nur eine Quelle für seine Konstrukte unter vielen. Es gilt für den Lehrer immer zu beachten, dass das, was er als Lehrer für viabel für sich empfindet, keineswegs ebenso für seine Schüler gilt. Er hat immer die Aufgabe zu prüfen, inwieweit die Passung bei den einzelnen Schülern gegeben ist und wo Abweichungen sind. Darum ist eine Dekonstruktion, eine kritische Reflexion des eigenen Lehrstils bei jedem Lehrer abzuverlangen. Ihm muss immer bewusst sein, dass jeder Schüler eine andere Auswahl an Lehrinhalten hat, jeder anderes für wichtig und viabel hält, jeder Schüler andere Vorkenntnisse besitzt und damit jeder Einzelne eine andere Vorstellung von der Wirklichkeit seiner Lebensumwelt hat. (vgl. Reich 1997, S.205-209). Er muss sich der „[…] letztlichen Relativität und Subjektivität allen Wissens bewusst bleiben […]“ (Diesbergen 2000, S.94). Wissen ist aus diesem Grund nicht von einem zum anderen transportierbar, sondern steht unter dem Zwang der Subjektivität des Einzelnen

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